Wegbereiter der Zucht in Westfalen

Robert Oettel stammte aus einer angesehenen Görlitzer Kaufmannsfamilie, die engste Kontakte mit den Kaufleuten der Bielefelder Leinenstadt pflegte. Der Sohn Robert wurde am 23. November 1798 in seinem Vaterhaus, einem der ältesten Häuser der Stadt Görlitz, geboren. Aus alten Aufzeichnungen der Familie Oettel ersehen wir, daß am 17. Juli 1807 für Kaiser Napoleon ein Frühstücksessen gegeben wurde. Auch während der Freiheitskriege beherbergte die Familie Oettel General Prinz Eugen von Württemberg und den österreichischen Gesandten. Nach Beendigung seiner Schulzeit nahm er, mit guten Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestattet, in Dresden die kaufmännische Lehre auf. Später war er in Frankfurt am Main bei einer der ersten Firmen in leitender Stellung tätig.
Hier lernte er auch seine Frau kennen und kehrte nach seiner Heirat nach Görlitz zurück, wo er nach kurzer Zeit zusammen mit seinem Bruder das 1406 gegründete väterliche Handelsgeschäft unter der Firma Gebrüder Oettel übernahm. Seine Frau starb nach 30jähriger glücklicher Ehe, der ein Sohn und drei Töchter entstammen. Der Sohn starb sehr früh, in zweiter Ehe war Oettel mit der Schwester seiner ersten Frau verheiratet, doch wurde er nach wenigen Jahren zum zweitenmal Witwer.

Robert Oettel mit seinem Geflügel

Robert Oettel mit seinem Geflügel

Oettel war begabt und erfüllt mit hervorragenden Sprachkenntnissen, einem aufgeweckten und strebsamen Geist, einem bedeutenden Organisationstalent, einer sehr gesellschaftlichen und frohen Natur. Darüber hinaus besaß er einen besonders liebenswürdigen, ehrlichen und in jeder Hinsicht uneigennützigen Chrakter. In seiner Vaterstadt und weit über deren Grenzen hinaus war er allgemein verehrt und geschätzt. 44 Jahre war er Stadtverordneter in Görlitz.
Schon frühzeitig beschäftigte sich Oettel aus Liebhaberei mit der Geflügelzucht, mit besonderem Interesse nach seiner Rückkehr aus Frankfurt. Nach der Übernahme des väterlichen Geschäftes beschäftigte sich Oettel viel und gern mit seinen Lieblingen aus der Geflügelwelt.
Die in der damaligen Zeit bekannten Hühnerrassen fesselten ihn außerordentlich, und er suchte nach Wegen zu einer rationellen Zucht. Bald gewann er für seine Liebhaberei eine Anzahl gleichgesinnter Freunde. In der Erkenntnis, daß der Rassegeflügelzucht, als einem sehr wichtigen Gebiet der Volkswirtschaft, in Zukunft eine besondere Bedeutung zukommt. Es wurde ihm gleichzeitig bewußt, daß Kraft und Wille eines einzelnen niemals ausreichen würde, das gesteckte Ziel bei Berücksichtigung der bestehenden Verhältnisse und der Vorurteile der Bevölkerung zu erreichen.
Deshalb schlössen sich 17 gleichgesinnte Freunde unter seiner Leitung am Montag, dem 18. Oktober 1852, zu einer Vereinigung zusammen. Mit Hinblick auf Oettels urwüchsigen Humor und geistvolle Veranlagung nannten sie sich fortan „Hühnerologischer Verein“. Er war der erste Geflügelzuchtverein in Deutschland. Die zahlreichen Witzeleien über diesen Vereinsnamen belächelte Oettel nur. Dank seiner großen Erfahrungen auf dem Gebiet der Geflügelzucht und seiner organisatorischen Fähigkeiten, blühte der Hühnerologische Verein in Görlitz nun mächtig auf und hatte schon im dritten Jahr nach seiner Gründung über 600 Mitglieder, darunter viele ausländische, aus allen Gauen Deutschlands und aus Westfalen. Aus dem Bielefelder Raum waren es die Kaufleute des Leinengewerbes. Die auswärtigen Mitglieder wurden von Oettel später in größere Landesbezirke zusammengefaßt und dann auf seine Anregung als selbständige Tochtervereine gegründet. So entstanden nach dieser Zeit die ersten Vereine in Westfalen, Bielefeld und Herford. Der Keim, den Oettel gelegt hatte, trug tausendfältige Frucht. In jeder größeren Stadt oder Ortschaft gibt es heute einen Verein, der nach Oettels Grundsatz „Züchtet rein und züchtet echt“ die Rassegeflügelzucht betreibt und fördert. Die Ausbreitung der Zucht basiert auf der Abgabe einwandfreier Bruteier. Ein Vorstandsmitglied des Görlitzer Vereins hatte als sogenannter Eierrat die Aufgabe, den Verkauf und Versand der Bruteier zu organisieren.
Von 1854 bis 1877 versandte der Görlitzer Verein über 67 000 Bruteier in alle Regionen Deutschlands. Auf diesem Wege erhielten auch an Geflügelzucht interessierten Bürger Bielefelds ihre ersten Bruteier aus Görlitz. Der Leinenhandel in dieser Zeit vor allem mit dem Handelshaus Robert Oettel, Görlitz, kam ihnen dabei entgegen.

Italiener, rebhuhnfarbig, 1893

Italiener, rebhuhnfarbig, 1893

Um der Bevölkerung der Städte und Dörfer die Erfolge der Rassegeflügelzucht zu demonstrieren und die Züchter zu friedlichem Wettbewerb anzuspornen, veranstaltete Oettel Geflügelschauen. Auf der ersten von ihm geleiteten Deutschen Geflügelausstellung, die 1854 in Görlitz stattfand, wurden außer dem deutschen Landhuhn und seinen Kreuzungen sechs verschiedene reine Rassen gezeigt: Brabanter, Franzosen, Malaien, Spanier, Cochins und Brahma. In ganz Deutschland horchte man auf, als in Görlitz die Wirtschaftlichkeit der Rassegeflügelzucht unter Beweis gestellt wurde. Oettel erkannte die Notwendigkeit guter nachbarlicher und freundschaftlicher Beziehungen, die neben der Völkerverständigung auch zur Belebung der Geflügelzucht und zur Leistungssteigerung beitrugen. Er stellte schon frühzeitig fest, das es nicht nur die einfachen Kreuzungshühner der Landwirte gab, sondern gezielt gezüchtete deutsche Landhuhnrassen. Seine Aktivitäten bezogen sich auch auf die Einführung und Akklimatisierung fremdländischer Hühnerrassen. Das machte ihn weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Mit dieser Einführung, vor allen Dingen durch die Importe der asiatischen Kampfhühner, schuf er die Grundlage für einen Regenerationsprozeß, der in England schon vor zehn Jahren Erstaunen auslöste.
1857 verwirklichte Oettel seine Idee, durch Gründung einer Fachzeitschrift der Rassegeflügelzucht noch weitere Anhänger zu gewinnen, vor allen Dingen aber die Geflügelzüchter durch interessante fachwissenschaftliche Mitteilungen und belehrende Aufsätze zu fordern und ihnen praktische Anregungen zu geben.
Da Oettel englisch und französisch beherrschte und auf seinen Auslandsreisen Gelegenheit fand, mit ausländischen Geflügelzüchtern Fühlung zu nehmen, brachte er in seinen „Hühnerologischen Monatsblättern“ , die später „Blätter zur Geflügelzucht“ genannt wurden, öfter Berichte aus dem Ausland und Übersetzungen aus den ausländischen Fachzeitschriften. Auch in den Tageszeitungen und Landwirtschaftlichen Blättern veröffentlichte Oettel aufklärende und belehrende Aufsätze über Geflügelzucht. Seine eigenen reichen Erfahrungen faßte er in seinem Geflügelbuch „Hühner und Geflügelhof“ zusammen, das in mehreren Auflagen herauskam.
Nicht nur in Deutschland galt Oettel als anerkannte und hochgeschätzte Autorität auf dem Gebiet der Geflügelzucht, auch im Ausland war er wegen seiner großen Erfolge und Verdienste als Rassegeflügelzüchter sehr bekannt und hochgeehrt. Schon 1858 wurde er zum ordentlichen Mitglied der kaiserlich-russischen und kaiserlich-französischen Akklimatisationsgesellschaft in Moskau bzw. Paris ernannt.

Zwerghuhn-Züchtervereinigung 1911 begeht 1961 ihr 50jähriges Jubiläum

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Innerhalb weniger Jahre stieg die Mitgliederzahl des Vereins zu ungeahnter Höhe an. Im Jahre 1855 zählte der Verein bereits über 600 und 1858, nach über fünfjährigem Bestehen, 1245 Mitglieder, darunter 23 Ehrenmitglieder und 1037 auswärtige Mitglieder. Letztere verteilten sich in der damaligen Zeit auf folgende Länder: Österreich, Niederlande, Rußland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Amerika.
Oettels Ziel, die Weiterverbreitung der Rassegeflügelzucht in ihren einzelnen Unterarten, wurde in greifbare Nähe gerückt, als man dazu überging, die Mitglieder innerhalb Deutschlands in besondere Länder zu organisieren. Trotzdem sich nunmehr eine große Zahl von neuen Geflügelzuchtvereinen bildete, schieden zunächst nur 200 Mitglieder aus ihrem Stammverein aus. Man war sich nämlich in der damaligen Zeit des bedeutsamen Zusammenhanges mit dem Hühnerologischen Verein zu Görlitz ebenso bewußt wie der anregenden Weiterbildung und der befruchtenden Förderung durch den Altmeister der deutschen Rassegeflügelzucht, so daß Ausgang des vorigen Jahrhunderts schon mehr als 600 deutschen Geflügelzuchtvereine bestanden. Von besonderem Interesse ist auch der um diese Zeit geführte Kampf um die Errichtung staatlicher Zucht- und Versuchsanstalten.
Bei Gründung des Görlitzer Vereins waren nur sechs Hühnerrassen bekannt, die auch von seinen Mitgliedern gezüchtet wurden. Unter großen Schwierigkeiten wurden aus dem Ausland, teilweise sogar bis aus Mexiko, folgende Rassen neu eingeführt: Brabanter in Schwarz und gesperbert, Franzosen (La Fleche und Greve Coeur), Malaien, Elefantenhühner (Spanier), Cochin China und Jerusalemer (helle Brahma). Auf diese Initiative waren 1866, fünf Jahre nach der Gründung des Bielefelder Vereins, schon 17 Rassen in Deutschland vertreten. In welchem Maße sich der Hühnerologische Verein der weiteren Ausbreitung der Geflügelzucht widmete, ersehen wir schon daraus, daß er öffentlich im Görlitzer Anzeiger vom 30. Dezember 1852 die Besteller aufforderte, die aus dem Ausland bezogenen Hühnerstämme sowie Hähne zur Blutauffrischung und Einkreuzung in Empfang zu nehmen. Die wiederholten Einfuhraktionen konnten jedoch der Nachfrage bei weitem nicht Folge leisten. Deshalb wurden von den herausgezüchteten Stämmen in ganz Deutschland Bruteier verschickt. Im Jahre 1854 waren es 4200 Eier. 1857 wurden 7442 Eier zum Versand gebracht. Nur wenige Jahre später wurde unter Ausnutzung aller Möglichkeiten die Rassezucht auf das Groß- und Wassergeflügel sowie auf Tauben ausgedehnt.

Hahn und Henne der Baronin von Ulm-Erbach, Phönix, weiß, um 1895

Hahn und Henne der Baronin von Ulm-Erbach, Phönix, weiß, um 1895

Oettels züchterische Anregungen und Kritiken als Preisrichter auf den bedeutendsten Geflügelausstellungen erfreuten sich ebenfalls besonderer Wertschätzung. Nach den fachlichen Besprechungen und Diskussionen herrschten im Hühnerologischen Verein besonders schöne Feste, die ein Ereignis für ganz Görlitz waren.
So schrieb der Chronist über das im Jahre 1856 abgehaltene Fest, daß selbst der größte Saal der Stadt die erschienenen Hühnerfreunde kaum zu fassen vermochte. Jedes der Feste hatte einen entsprechenden Namen, im Jahre 1853 zum Beispiel „Cochin-China-Fest“. Die Förderung des Frohsinns und der Geselligkeit weckte Oettel auch bei den anderen Geflügelvereinen. So veranstaltete er 1857 ein ähnliches Fest in der Nachbarschaft Löbau.
Mit seiner großen dichterischen Begabung und seinen humorvollen Reden erfreute er bei allen Begegnungen seine Zuchtfreunde und die zahlreichen Gäste. Seine Trinksprüche, seine hühnerologischen Tafellieder sowie der von ihm gedichtete und immer wieder gern gesungene „Hühnerologische Festgesang“, den er von dem damaligen Hofmusikus Johann Böttcher vertonen ließ, gestalteten die Feste immer besonders stimmungsvoll.
32 Jahre lang hat Robert Oettel mit großer Sachkenntnis sowie unendlicher Mühe, Hingabe und Liebe bis zu seinem Tod am 14. März 1884 den Verein geleitet. Er war dem Verein alles, wie auch dieser ihm alles war. Alle Zeitgenossen sind heute stolz darauf, das Werk des Meisters fortsetzen zu können. Der 100. Geburtstag Robert Oettels gab die Anregung, dem Begründer und wirksamen Förderer der deutschen Rassegeflügelzucht ein Denkmal zu errichten. Es bildete sich ein Gründungskomitee, das aus vier Züchtern bestand, dem Vorsitzenden des Hühnerologischen Vereins Görlitz, August Kienitz, einem Enkel Robert Oettels, dem Vorsitzenden des Klubs deutscher und österreichisch-ungarischer Geflügelzüchter, Hugo du Roi, Braunschweig, dem Vorsitzenden des Generalvereins der schlesischen Geflügelzüchter von Wallenberg, Pachaly, und dem Gründer und Vorsitzenden des Hamburg-Altonaer Geflügelzuchtvereins von 1874, Julius Völschau. Nachdem hinreichend Gelder gestiftet und gesammelt waren, wurde der Dresdner Bildhauer Schnauder gebeten, ein Denkmal für Robert Oettel zu entwerfen. Mit diesem Denkmal sollte auch ein Wunsch Robert Oettels Erfüllung finden, den er scherzend seinen Freunden gegenüber geäußert hatte : „Auf mein Grab müßt ihr mir setzen einen schönen stolzen Hahn. Kräht er, würd ich mich ergötzen, selbst wenn ichs nicht hören kann.“
Das Denkmal wurde am 15. Juni 1901 nach einer Festansprache von August Kienitz enthüllt. An schöner Stelle in den Anlagen der Stadt Görlitz wurde der gewaltige rohe Granitblock mit dem großen Bronzereliefbild Robert Oettels errichtet. Der bronzene, naturgetreu geformte bergische Kräher stand auf einem seitlichen Vorsprung des Granitblocks in gleicher Höhe wie das Reliefbild. An dem Unterbau waren zwei große bronzene Relieftafeln mit Darstellungen von Hühnern und Wassergeflügel angebracht. Unter der Bildnisplakette ist eingemeißelt: Robert Oettel 1798-1884. Auf einer Steintafel am Fuß des Denkmals steht die Widmung: „Dem Gründer der Deutschen Rassegeflügelzucht“

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