12.02.1861: Kalter Wind fegte feinen Schnee durch die Niedern- und Obernstraße in Bielefeld. In der Nähe des Rathauses war das Gasthaus von Carl Modersohn. Hier trafen sich die Leinenkaufleute und Mitglieder der Bielefelder Schützengesellschaft, würziger Duft entströmte der Kaffeekanne, vermischt mit dem feinen Aroma des Gebäcks, das Carl Modersohn serviert hatte. Der 69-jährige Johann Bansi erhob sein Glas und prostete den Anwesenden mit einem Likör aus seiner bekannten Fabrik zu.
Nach der Kaffeetafel ergriff Hermann August Delius das Wort und erklärte den Männern seinen Plan zur Gründung eines Geflügelzuchtvereins. Die Worte des königlichen Kommerzienrates und Ehrenbürgers der Stadt fanden in den Herzen der Anwesenden das richtige Echo. Am Tisch saßen so bekannte Persönlichkeiten wie August Oertmann, Gründer der Ravensberger Spinnerei zu Schildesche, der Goldarbeiter August Schlüter, Fabrikant C. Peters, die Kaufleute Friedrich Wilhelm Lütgemeier, Heinrich Krönig, Carl Bertelsmann, Gottfried Heidsiek, Hugo Niemann, Arnold Johann Reckmann, Theodor Droop und Johannes Klasing.
Man hatte schon viel von Robert Oettel aus Görlitz, dem Gründer des ersten deutschen Geflügelzuchtvereins, gehört, und einige der Anwesenden waren selbst Mitglied in Görlitz. Alle Anwesenden Männer stimmten August Delius zu. Wollen und ehrliches Streben standen Pate in der Gründungsstunde des Bielefelder Vereins am 12.02.1861.
Der Gründungstermin der organisierten Rassegeflügelzucht ist keineswegs der Beginn der Geflügelzucht in Bielefeld. Das Leinengewerbe zeigt uns Parallelen. Die Weberzunft soll am Ende des 17. Jahrhunderts mehr als 100 Mitglieder gehabt haben. 1719 waren es nachweislich nur noch 50. Schließlich wurde in der Stadt der selbständige handwerkliche Weberbetrieb mehr und mehr aufgegeben.
Umso mehr wurde in der Stadt gehandelt, und zwar mit Garn und mit Leinen, das auf dem Lande in den Köttereien und Heuerlingsstätten gesponnen, gewebt und zum Kaufmann in die Stadt gebracht wurde. Die entscheidende Wende brachten die Handelsbeziehungen zu den Leinenmärkten Hollands, Belgiens und Flanderns. Die Bielefelder Kaufleute, in Antwerpen sehr bekannt, brachten von dort nicht nur den Schnitzaltar der Altstädter Nikolaikirche mit, sondern auch verschiedene Hühner und Taubenrassen, die in diesen Ländern eine neue Heimat gefunden hatten. Die Züchter dieser Länder waren schon in sehr früher Zeit mit dem exotischen Geflügel vertraut. Sie erhielten es von den Seeleuten ihrer Kolonien. Gegen gutes Leinen wurde das Geflügel dann ausgetauscht und nach Bielefeld gebracht.
Der niederländische Maler Jan Steen malte diese Geflügelrassen naturgetreu auf seinem Gemälde „Der Hühnerhof‘ im Jahre 1660. Melchior d’Hondecoeter schuf ein wundervolles Gemälde im Jahre 1659.
Spekulationen wollten die engere Berührung des hoch entwickelten niederländischen Leinengewerbes mit der Geflügelzucht und der Vertreibung der Geusen in Verbindung bringen. Den Namen der Güsenstraße in Bielefeld deutete man als Geusenstraße. Der Name erklärt sich aber einfacher als Gösestraße oder Gänsestraße, denn sie führte zu einem kleinen Platz, der noch Anfang des 19. Jahrhunderts Gänsemarkt hieß.
Niederländische Händler, die mit ihren Pferdefuhrwerken im 18. Jahrhundert Bielefeld bereisten und Leinen und Garn aufkauften, brachten meist so ihre Geflügelrassen mit nach Bielefeld, es waren vor allem die holländischen Haubenhühner, wie Brabanter aber auch schon Bantam und Chahos.
Auch Bielefelder Kaufleute bereisten die Nordseeländer, um dort das Schwarzbrot, das Bielefelder Leinen und die Westfälischen Landhuhnrassen wie Krüper, Lakenfelder und Westfälische Totleger zu verkaufen.
Aus der Zeit des 7-jährigen Krieges 1759 gibt es eine Aufstellung über die Besitzungen der Stadt Bielefeld und des Umlandes, das Feldmark hieß. Danach gab es in Bielefeld 75 adlige Häuser, 75 Ganzbauern, 66 Halbbauern, 200 Bauern und 386 Kötter.
Wenn also für Bielefeld einerseits galt, daß es keine Ackerbürgerstadt in dem Sinne war, daß Bürger im Hauptberuf Ackerbau betrieben hätten, so galt andererseits das Prinzip der Selbstversorgung für die meisten Stadtbewohner. Dazu gehörte in erster Linie die Viehhaltung.
Betrachtet man den Bielefelder Viehbestand unter dem Gesichtspunkt, daß in der Stadt durchschnittlich nicht einmal ein Tier auf jede Familie kam, ist das wenig. Andererseits war der Viehbestand auf einer so geringen Fläche wie Bielefeld dicht, wenn auch die Schafe auf dem Hof Ummelmann außerhalb der Stadt gehalten wurden. Der Neustädter Kuhhirt trieb 1793 täglich 116 Kühe auf die Weide, der Alterstädter 178 Tiere. Das bestimmte nicht nur das äußere Bild der Stadt mit ihren vielen Stallungen und Misthaufen. Auf den Straßen befanden sich überall Herden des alten Landhuhnes, die das tägliche frische Ei auf den Frühstückstischen lieferten.
Die großen Flächen außerhalb der Stadtmauern wurden landwirtschaftlich genutzt, wobei Ackerbau wie Roggen und Leinen den größten Anteil hatte. Soweit die Feldmark noch nicht besiedelt war, erfolgte die Bewirtschaftung von der Stadt aus. Groß- und Kleinbauern mußten in der damaligen Zeit mit der königlichen Rentei Erbpachtverträge abschließen. Jeder Erbpächter mußte jährlich einen Schutztaler entrichten. Als weitere jährliche Verpflichtung kamen hinzu die Abgabe von Gänsen, Enten und Hühnern. Von den ravensbergischen Städten hatte Bielefeld im Jahre 1802 die meisten Einwohner; es waren insgesamt 4.312.
Es folgte eine Zeit, in der die Industrialisierung und Mechanisierung das Leinengewerbe am schwersten traf, mit schweren Krisen und Hungerjahren. Die Menschen standen damals fassungslos vor dem Neuen. Sie wollten und konnten nicht begreifen, daß eine Tätigkeit, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten ihren Mann ernährte und zu Wohlstand in Stadt und Land geführt hatte, nun mit Einfuhrung von Maschinen überflüssig sein sollte. Bauern allerdings hatten immer die Möglichkeit, ihre Kötter und Heuerlinge durch ein paar schwere Winter zu bringen. Das deutsche Landhuhn, Lieferant von Eiem und Fleisch in dieser Notzeit, wurde in diesen Jahren immer mehr entartet und degenerierte schließlich.
Dann erschütterte ein Ruck die Züchtcrwelt. Nach dem Frieden von Naking in China gelangten die ersten Riesenhühner nach Europa. Der damals bekannte Tiermaler Harrison Weir zeichnete die ersten Tiere für die „Illustrated London New’s“ am 23.12.1843. Es waren zwei rubhuhnfarbige Stämme, die als Import 1843 in das neue Geflügelhaus der englischen Königin Viktoria kamen. Diese Frau ging in die Geschichte ein: Als sie 1901 starb, hatte sie 63 Jahre regiert. Der Berichterstatter der damaligen Zeitung schrieb über Cochin-Wunderhühner, sie hätten Stimmen wie Löwen, seien groß wie ein Strauß. Die Welt verfiel der Cochin-Manie. Tiere mit ungewöhnlicher Gestalt, Farbe und Größe zogen Liebhaber an. Für die ersten, besonders schönen Exemplare wurden Preise von 1.000,– Mark gezahlt. Ein Brutei kostete 10,– bis 12,– Mark. Nach Deutschland kamen die ersten Tiere am 06.03.1854, und zwar nach Köln, wo sie im Hotel Dom zu enormen Preisen versteigert wurden. Görlitz mit seinem „Hühnerologischen Verein“, Dresden und Bielefeld in Westfalen entwickelten sich zu Hochburgen der ockergelben Hühner.
Nur wenige Wochen nach dem 06.03.1854 erhielten sie eine neue Heimat in den Prachtgärten von Hermann August Delius und August Oertmann. Zu ihren ersten Bewunderern gehörte Landrat von Ditfurth und Tierarzt Baldewein. Das große Interesse der königlichen Tierliebhaberin Viktoria in England wurde von vielen Haushuhnfreunden geteilt. Die Königin war auch eine passionierte Taubenzüchterin; sie besuchte Taubenausstellungen und verbrachte viele Stunden in ihrer Taubenvoliere. Über alles schätzte sie Perückentauben.
Tiermaler Harrison Weir entwarf der Königin ein neues Geflügelhaus, ein niedriges langgestreckten Gebäude mit vielen Fenstern, von Bäumen umstanden. Vor diesem Gebäude lag ein eingezäunter, künstlich angelegter Parkteich mit einer stattlichen Fontäne. Dieses Geflügelhaus war bald Vorbild für Geflügelzüchter in der ganzen Welt. Fürsten und Kaufleute schenkten seit dieser Zeit der Rassegeflügelzucht mehr Beachtung.
Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Gründung des Vereins für Geflügelzucht in Bielefeld, schloß sich der Kaufmann und Mitinhaber eines der angesehensten Leinenhäuser, Hermann August Delius, mit den Häusern Kisker, Velhagen, Willmanns, Krönings, Tiemann von Laer, Niemann, Bertelsmann und vielen anderen mehr zusammen, um die totale Mechanisierung in allen Zweigen des Textilgewerbes voran zu treiben, also spinnen, weben, bleichen und ausrüsten. 1854 wurde der Anfang gemacht mit der Gründung der Ravensberger Spinnerei; im Jahre 1864 folgte die Bielefelder mechanische Weberei an der Teutoburger Straße. Bei den genannten Kaufleuten handelte es sich zum Teil um Geflügelzüchter. August Oertmann, Freund von Hermann August Delius, war einer der ersten in Deutschland, der von Bielefeld aus die Rassezucht propagierte. Seine bevorzugten Rassen waren in erster Linie englische Kröpfer in allen Farben. Für Bruno Dürings großes Werk „Die Geflügelzucht“ von 1886 verfaßte Oertmann einen umfassenden Bericht über Aussehen und Haltung dieser Rasse. Mit Erfolg züchtete Oertmann auch weiße Pfautauben, Almonds, weiße ägyptische Mövchen. In seinem Hühnergarten scharrten Brahmas, Minorkas, Andalusier, Paduaner, rebhuhnfabige Cochins, federfüßige Zwerghühner, porzellanfarbig und gesperberte Bantams. August Oertmann stellte auf allen Schauen in Deutschland seine Tiere aus und erhielt höchste Auszeichnungen. In der Turnhalle auf dem Johannisberg gab es regelmäßig Geflügelausstellungen, häufig verbunden mit Konzerten, bei denen auch die bekannte Bielefelder Sängerin Maria Crüwell auftrat, eine Schwester der berühmten Pariser Primadonna Sophie Cruvelli. Tafelmusik, reden und fröhliches Gläserklingen hielten die Menge in der mit Fahnen, Blumen und Kränzen prächtig dekorierten Turnhalle häufig noch lange nach Mitternacht zusammen. Die Veranstaltungen waren Höhepunkte für alle westfälischen Züchter.